3.30.2021

Die Leiden des alten Werther

 Werther heisse ich nicht; das geb ich zu; aber das Fûrwort alt? Das trifft, das trifft, leider, leider leider, trifft das genau.

Obwohl ich klage, klage ich, im Grunde, nicht. Die Knien tun mir dann und wann weh; Rûckenschmerzen, die mich ab und zu zwingen, den Boden anstatt den Himmel im Sichtfeld zu bewahren; die Muskeln, die mit den Jahren immer schwächer werden, usw, ja, das erwartet einer, der dem 80. Geburtstag entgegenkommt.

Ich bin, bis jetzt, trotz allem, glücklich. Das Schicksal, dem wir alle bevorstehn, lässt mich noch Bewegungsraum; die Wände kommen langsamer als durchschnitlich zusammen; einige wenige Jahrringe mehr als in dem Stumpf des Nachbars wird man in meinem Fall wohl zählen können, als die Bäume meiner Genration längst gefällt sind.

Aber die Vereinsamung, dass der Menschenbaurm fühlt, als er plötzlich bemerkt, nicht nur dass seine Rinde dicker und schwächer wird; nicht nur dass er dem Boden unabzwinglich näherkommt, sondern dass er wahrnehem muss, als die Sonne hinter Wolken verschwindet,  dass die Nachbarn, die neben ihm stehen, selbst wenn er sie im Lebenstaumel kaum bemerkt, einer nach dem anderen fallen; die Beziehungsverlust, ja das ist der schlechster und unabwendbarer Schreck des Alters--Blitztrotz können "immer" dem Himmel seine Zweige zeigen, aber dass der Blitz schon die Nachbarn getroffen hat, diese Kenntniss lässt ihn lange Zeit erstarrt, trost- und hiflflos im Restwald dastehen, ganz allein.

Mein erster deutscher Bandwurmsatz!

1.

Warum  diese düsteren Gedanken? Was ist geschehen? Ein Memento Mori? Ja. Eine Beziehungsverlust? Doch.

1965 verliess ich das Chaos im Haus, um zwei Semester an der Freibruger Uni (Junior Year Abroad, University of Madison) zu verbringen. Ich bin nicht deutscher Herkunft; das wenige Schuldeutsch, das ich damals sprach, hätte Goethe einen Ohnmachtsanfall geben müssen. (Als ich 1966 mit dem Schiff wieder nach Hause fuhr, hätte er mich nur mit einem Stirnrunzeln  erwidert, wenn ich ihn auf deutsch befragte, warum seine letzten Worte Mehr Licht waren. Ja, viele Stil- und grammatische Fehler sind in diesem Blog sicherlich vorhanden.

Wir waren eine Gruppe von ungefähr 30 jungen Amerikaner ("Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar" Kennen Sie das?) Wir trafen uns als Gruppe jeden Wochentagsmorgen für Vorlesungen, und später noch bei Professoren an der Uni. Ein Mädchen namens Jean Stratman lernte ich ffast sofort kennen. Sie war süss, mittelgross, mit braunen Augen und braunem Haar. Ein bisschen schüchtern und wortkarg; manchmal, wenn sie nicht wusste, was zu sagen, brachte ihr Mund in ein ansteckbares Lächeln aus, das ich noch fast vor Augen sehen kann. Sie war mittelgross and ein bisschen untersetzt. Sehr Mittelwestlich, im amerikanischen Sinn des Wortes, war sie, wie die meisten von uns: sie nannte, zum Beispiel, ihre Katze, "Fluffy Ruffles Kitty Kat Stratman lll"--wir waren alle damals an der Scheidgrenze zwischen Kindheit und Erwachensensein.

Sie befreundete sich mit einem jungen deutschen Mediziner, M. Michael Peith; wir waren bald alle drei Freunde. Ihre Freundschaft mit ihm ging aber bedeutend tiefer; sie wurde bald schwanger. Ehe sie entbunden war, wurden sie Mann und Frau.


Michael, wir wir alle ihn nannten, war mittelgross und ein bisschen untersetzt auch. Seine Beine wirkten ein bisschen zu kurz für seien verhähltnissmässig grossen Kopf; aus diesem Grund sah er noch jünger aus, als er war. Sehr klug war er, mit Interessen ausser Medizin. Zum Beispiel, erinnere ich mich an einen Tag, währenddem er aus dem schwedischen übersetzte. Noch ein Beispiel: er schwärmte, ehe er Jean kennenlernte, mit einer jungen Studentin für der Mann ohne Eigenschaften von Musil. Ihre Familie sollte aus dem ehemaligen Adel stammen. Einmal, als sie uns (Jean und ich) vorbeiging, deutete Jean auf sie und flüsterte, höhnisch: "Da geht die Prinzessin!" 

Wir sahen uns fast täglich. Jean betete Michael an; für sie war er ein Abgott mit einem Stethoskop; er war auch sehr verliebt in sie. Als wir einst zu dritt in einem Restaurant assen, äugelten sie sich so dämlich an, dass ich es nicht mehr ausstehen konnte. "Glotzt aber nichr so romantisch," sagte ich mit Humor, aber mit Nachdruck auch. Zurück zur Wirklichkeit habe ich sie momentan gebracht, aber gedauert hat das nicht lange. Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr.

Michael hat mich einer seinen Bekannten vorgestellt. Sie hiess Barbara Drinkuth. Sie wurde bald diesem schüchternen Menschen die erste Freudin, die er je geliebt hatte. Ich erinnere mich an den ersten Kuss auf einer Wanderung im Schwarzwald. Wir versteckten uns hinter einer Decke, die ich über unsere Köpfe hielt, damit die Blätter glecihsam unsere vermutlichen Schandtaten nicht sehen könnten. Ach die Schüchternheit, sie kommt immer wieder, und vergeht nicht so leicht.

Barbara hatte Fuchshaar, ein volles Gesicht, schöne, volle Lippen, die über eine Tizianfigur herrschte. Sie kam aus Bad Pyrmont in der Nähe von Hannover; später, als wir uns besser kannten, verbrachte ich eine Woche bei ihr und ihrer Familie. Ihr Vater war eine Persöhnlichkeit; sie imponierte mir. Ich erinnere mich als ich ihr sagte, "Dein Vater malt die Welt mit seinen eigenen Farben." Später kam es heraus, dass er ein Richter während der Nazizeit war. "Wie könnte er Menschen zum Tode verurteilen," weinte sie mir viel später vor. Schrecklich. Ich spüre immer noch den Schauder, der damals über mich ging, indem sie mir dieses erzählte, Schrecklich. Aber das war nicht ihre Schuld.

Antisemit war er aber vermutlich nicht. Als Barbara mich in New York besuchte, besuchten wir ihre "Tante" Lizzi und ihre zwei Töchter, eine jüdische Familie; Lizzi und ihr verstorbener Gatte flohen nach die USA als Hitler an die Macht kam.  Sie hatten eine grosse Wohnung in The Dakota Apartments, wo man Rosemary's Baby verfilmte und zu dessen Eingang John Lennon 1980 ermordert war. Alle drei Jahren, oder so ungefähr, sahen sich die deutsch-jüdische und die deutsch-goyische Familie in der Schweiz wieder. Ob Barbaras Vater ihnen halfen, zu fliehen? Ich bin nicht sicher, aber ich glaube schon.

Eine letzte Anekdote über Barbara. Eines Tages, während ihres Besuchs bei mir in New York, endeten wir unseres schönen Herumbummeln im Central Park. Wir parkten irgendwo nebenbei und gingen spazieren. Wir parkten illegal, dachte ich mir, und ich hatte Recht. Als wir zurückamen, bemerkten wir dass ein Polizist neben dem Auto auf uns wartete. Oy! Ein Strafzettel oder noch Schlimmeres steht uns bevor, dachte ich mir. (Barbara und ich sprachen untereinander deutsch, aber sie konnte gut Englisch.) Schnell flüsterte ich ihr zu, dass sie jetzt ihr Englisch vergessen soll. Der Polizist brüllte vor Zorn; wir aber gaben vor, dass wir kein Wort verstanden. So viel Unsinn redeten wir auf deutsch! Wir gaben nicht nach. Er hatte keine Ahnung, dass einer von uns ein waschechter Amerikaner war! Endlich, frustriert, zeigte er uns mit einer klaren Geste, dass wir gehen konnten. Und das haben wir getan.

2.

Die Schwangersachaft kam im Jahre 1966 oder 1967 erfolgreich zum Ende: der Baby--der jetzt, Gott! 56 Jahre alt ist--hiess Ted. Jean, noch ehe er geboren wurde, gab ihm den Kosenamem, "Piglet". Als ich 1969 Jean, Michael und Barbara besuchte, gingen wir an einem heissen Juli Tag schwimmen. (Ich weiss, dass das Jahr 1969 war, weil ich mich ganz genau erinnerte, dass ich mit einer Menge Bewunderer in einem Freibirger Schaufenster fernsah, als die Amerikaner am Mond landeten--das war den 29, Juli, 1969). Alle Kinder unter fünf liefen ruhig nackt im Schwimmbad umher, aber nicht Piglet. Mit Herablassung sagte sie mir, dass wir Amerikaner so was nicht tun.

Michael emigrierte nach Amerika, und hatte einer langen erfolgreichen Laufbahn als Gastrolog bei  Verternas Hospital in Marion, eine Kleinstadt im Bundesstat Illinois. Er hatte weitere Kinder, aber Ted als Toddler war der einzige, den ich je getroffen habe.

Wir schrieben uns oft, zuerst brieflich, und dann als Briefe wie Dinosaurier ausgestorben waren, tauschten wir e-mails. Wir besprachen Literatur, Wisssenschaft, Bonobos und dergleichen mehr. Einmal überprüfte er mein Deutsch, als ich 1996 ein Gedichtsband, "Copperhead Cane" ins Deutsch übersetazte. (Der Verlag hat mich eingeladen, die Gedichte eines amerikanischen Germanisten und Professors als Geburtstaggeschenk zu verdeutschen. Sie glaubten dass ich Deutscher war!) Auf der letzten Seite des Buches steht geschrieben: "He (d.h. ich) would like to mention Dr. Michael Petith, who read over the translations and made suggestions." 

Michael, Jahre später, hat mir eine Schrift, "Musikstudien," von seinem beliebten Onkel, Rudolf Müller Chappius, der Pianist vom Beruf war, geschickt, weil ich mich für Musik als unterdurchschnittlicher Kalvierspieler so sehr interessierte. Das er mir sein einziges Exemplar schenkte, zeigt wie eng unsere Freundschaft war.


Aber die langen Kilometer zwischen uns nach und nach kühlte die Beziehung. (Er besuchte meine Frau und mich in Baltimore um 1982; er war allein, weil er sich von Jean schon geschieden hatte).  Er war derselbe Michael, obwohl älter--und dicker.  Auf seine Gesundheit soll er, der teure Freund, besser aufpassen, sagte ich mir.

Wir waren also befreundet seit 1965--alle meine Schulkameraden sind entweder gestorben oder verschwunden. Er war der ältester Freund, den ich das Glück hatte, zu kennen. Nach einer Strecke von anderthalb Jahren, hatte ich plötzlich vor, ihm eine e-mail zu schicken. Daran habe ich lange Zeit gedacht, aber leider nicht getan. Ich wusste nicht warum er mich nicht beantworte--bis ich im Internet seinen Nachruf las.

Ruhe im Frieden, Michael. Ich werde Dich vermissen; Dir zur Ehre habe ich diese Erinnerungen auf deutsch geschrieben, die Sprache, die wir meistens unter uns benutzten. Obgleich wir uns in den letzten Jahren kaum noch schrieben, war es immer ein grosser Trost, ein gutes Gefühl, dass Du noch auf Erden warst. Jetzt bist du ein Haufen Asche. Ich kann mir das kaum vorsstellen. Aber das muss ich; ich habe keine Wahl. Nebenbei füge ich hinzu, dass Barbara schon längst tot ist. Ich werde oft an Dich denken, Michael. Jean ist von Alzheimers schwer belastet.

Ja, der schrecklichster Teil des Alters ist, wie schon geschrieben, die Beziehungsverlust, dass der Tod mit sich bringt.

Mein Zauberjahr in Deutschland ist jetzt ein Wintermärchen. Aber märchenhaft war es doch.

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