5.03.2014

Rezension: Ruhm von Daniel Kehlmann

                                                                          Ruhm    \
                      
Ein Roman in neun Geschichten      
von Daniel Kehlmann
Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2009
203 Seiten



Einleitung: Ungefähr alle sechs Wochen findet ein Treffen unseres deutschen Literaturkreises statt. Wir sind Amerikaner, obwohl zwei von uns in Deutschland geboren wurden.  Ich selber bin waschechter Amerikaner dessen Muttersprache Englisch ist.  Wir besprechen zeitgenössige deutschsprachige Romane.  Die Gruppe existiert seit mehr als 25 Jahre. Neulich haben wir den Entschluss gefasst, online zu gehen, damit andere Leute an unserer Leserfreude teilnehmen können.  Wir suchen vor allem Leser deren Muttersprache nicht Deutsch ist, die aber Deutsch ohne grosse Schwierigkeiten lesen können.  Wir melden unseren Termin und den Titel der nächsten Buchwahl an; dann ermuntern wir Sie, das Buch mitzulesen, egal wo auf der Erde Sie wohnen.   Kurz nach dem Treffen, laden wir eine Rezension des Romans, den wir miteinander diskutiert haben, auf den Internet hoch.  Ihre Ansichten würden wir sehr gern im Kommentarfach lesen! Wir besprachen Ruhm am 27. April, 2014.

Der nächste Roman: Liebste Fenschel!: Das Leben der Fanny Hensel-Mendelssohn in Etüden und Intermezzi von Peter Härtling.  Nächstes Treffen: Am 29. Juni 2014,


RUHM

Der Roman besteht aus 9 verbundenen Kurzgeschichten. Charaktere in einer Geschichte kommen auch in anderen vor; manchmal sind sie nur erwähnt, oder sogar nur angedeutet.  Einige Themen vereinen die Teile des Romans, obwohl die Charaktere aus allen Gesellschaftsschichten kommen, und verschiedene, oft scharf gegensätzliche Berufe ausüben.  Sie haben alle etwas gemeinsam: wie die bekannte Familie in Anna Karenina, sie sind alle unglücklich auf ihren eigenen Weisen.  Selbst wenn sie im weltlichen Sinne erfolgreich sind, fehlt ihnen etwas, dessen Mangel sie verhindert, zufrieden mit sich selbst zu sein.  Man denkt an die Rede von Aristophanes im Symposium von Platon.  Im Ursprung bildeten die Menschen, so redete der Philosoph, eine Einheit aus, und kamen nicht als Männer und Frauen vor.  Die Menschen wurden mächtig und drohten sogar Zeus.  Um einen Machangriff zu verhindern, zerteilte Zeus den Urmenschen in zwei Menschen. Ein Teil hiess Mann, der andere Frau.  Die Teile kamen sich als Bruchstücke vor, und suchen seitdem die ehemalige Einheit durch ihr sexuelles Leben wiederherzustellen.

Als Beispiel dient gut die zweite Geschichte.  Ein bekannter deutscher Schriftsteller reist  von einer deutschen Botschaft zur anderen um Lesungen zu halten und danach mit den Leuten vom Auswärtigen Dienst und  mit ihnen Anghängern gefeiert zu werden.  Sie alle haben kein Verständnis für Literatur; sie wollen nichts mehr als eine geniale Abendsunterhaltung zu geniessen und sie stellen bei jeder Botschaft immer dieselben dummen Fragen.  Man ist jetzt irgendwo in Südamerika.  Der Autor reist mit seiner neuen Freundin, eine Ärztin im Dienste der Médecins sans Frontières.  Der Schriftsteller lebt in seiner eigenen fiktiven Welt; wirkliche Gefahr kommt in seinem Leben nur in seinen Geschichten vor.  Im wirklichen Leben ist er ein grosser Baby; seine Freundin muss ihn daurend beschwichtigen und ermutigen.  Was ihm feht ist das wirkliche Leben, was ihm fehlt ist Abenteur.  Seine Freundin hat viele ernsten Fälle inmitten sehr gefährlichen Kriegsverhälnissen behandelt.  Ihr Leben ist reich an Abenteuern, aber ihr fehlt ein Anschluss zur Kunst.  Sie versuchen mit leidenschafltichem Sex ihren entsprechenden Mangeln zu entkommen, und dadurch die alte Einheit, die Zeus so sehr fürchtete, wiederherzustellen.  Aber was für Aristophanes als möglich galt, ist für Kehlmann nur eine Fantasie, die scheitern muss.  In der Welt von diesem Roman ist das Leben unzureichend.  Die meisten Charaktere sind Narzissten: die Mitmenschen sind nur Mittel,  Bausteine, für sie, auf denen sie hoffen, ein privates Haus des Glücks zu bauen.  Am Ende entpuppen sich die entwürdigend behandelten Menschen als weicher Sand, und das Traumhaus fällt zusammen.

In ener anderen Geschichte treffen wir den Verfasser von banalen, mystichen Selbsthilfebüchern, der einen enormen Welterfolg geniesst.  Ich habe keinen Zweifel, dass Kehlmanns Vorbild für diesen Autor der brasilianishe Ermutigungsmeister, Paolo Coelho, war.  Die Geschichte spielt in Rio de Janeiro ab, wo auch Coelho zu Hause ist.  Der fiktive Coelho sieht endlich ein, dass seine äussere Micky Maus Philosophie die grosse schwarze Katze seiner inneren Nichtigkeit nicht mehr fernhalten kann.  Die Katze öffnet ihren Schlund: der Autor steckt eine Pistole in seinen Mund.

Eine Äbtessin hatte ihm einen Brief geschrieben, in dem sie ihn bat, ihr schriftlich zu erklären, was der Sinn des Lebens sei.  Unmittelbar bevor er zur Pistole griff, antwortete er ihr mit diesen Worten:

Werte Äbtissin, kein Grund zur Hoffnung besteht, und selbst wenn Gott anders zu rechtfertigen wäre als durch Seine offenkundige Abwesenheit, so verblasste jedes kluge Argument doch vor dem Ausmass des Schmerzes, ja vor dem schieren Faktum, dass es Schmerzen gibt und dass alles, immer und zu jeder Zeit, unzureichend ist.  Das einzige, was uns hilft, sind wohlige Lügen wie die in Ihrer heligen Person verkörperte Würde...
                                                                     S.129

Schopenhauer Lite, genau so blöd,  wie vermutlich seine ehemalige Micky Maus Philosophie war. Hoffentlich ist das nicht die Weltanschauung von Kehlmann selbst!  Obgleich Humor und Ironie  im Roman häufig vorkommen, sind die Geschichten  dunkel und traurig.  Man denkt an das Sprichwort: Jeder für sich und Gott gegen alle.  Ein bisschen eintönig, dieser Pessimismus.

Die Grenze zwischen Wirklichket und Phantasie wird oft im Roman überschreitet.  Ein Beispiel: die Ärztin in der zweiten Geschichte will nicht fiktionalisiert werden; sie möchte unbedingt nicht als Charakter in einer Geschichte erscheinen.  Doch kommt sie trotzdem in der letzen Geschichte vor. In jener erfundenen Welt, wie erwartet, ist der Autor, ihr Freund, kein Feigling mehr, sondern fürchterlos.  Kehlmann ist sehr virtuos in der Behandlunng dieses Themas.

Die moderne Technologie spielt eine grosse Rolle im Roman. Das Mobiltelefon hat eine prominente Stelle und der Leser erkennt, dass es keine Bedenkzeit mehr, keine Ruhe mehr gibt. Man wird dauernd unterbrochen.

Ruhm ist ein sehr lesenswerter, interessanter und origineller Roman, der mich ermutigte, meine Handy eine Weile abzustellen,  um vor dem Computer zu sitzen, um diese Rezesnion zu tippen. 

Entschuldigung, sie läutet wieder.  Oder war das die ihre?



Anmerkungen


Mein besonderer Dank gilt Mary Upman vom Deutschen 

Literaturkreis in Baltimore.  Sie hat 

diese Rezension vorsichtig korrigiert and verbessert  Vielen 

Dank, Mary!

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Sie den Titel und dem Namen, 

Thomas Dorsett)

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