10.08.2016

Rezension: Aller Tage Abend, ein Roman von Jenny Erpenbeck

Eine Rezension vom deutschen Literaturkreis, Baltimore, Maryland, USA

Aller Tage Abend
Von Jenny Erpenbeck
btb-Verlag, Tasdvhenbuchausgabe
München, 2014
283 Seiten




Auf dem Deckel dieses Romans, “Aller Tage Abend,” steht die Meinung eines Kritikers : « Dieses Buch wird bleiben. »  Ich aber nehme diesen Satz nur so an, dass, wie die Physik behauptet, Materie,  unter normalen Umständen, weder geschaffen noch zerstört werden kann.  Nur in diesem Sinne wird das, was diesen Roman ausmacht, noch in irgendeiner  Form bestehen, längst nachdem wir Zeitgenossen ichlos sind, meine ich.

Obwohl der Roman in Teilen interessant ist, bleibt er als Ganzes eine Stillgeburt—er lebt nicht.  Jenny Erpernbeck erzählt die Geschichte einer Familie, die der ihren ähnlich ist.  Die Grossmutter Erpenbeck war die bekannte DRR-Schriftstellerin und Schauspielerin, Hedda Zinner, die 1905 in Lemberg in Galizien geboren wurde und 1994 in einem deutschen Pflegeheim starb.  Im Buch kommt die Grossmutter 1905 in Galizien ans Licht; 1990 stirbt sie in einem Pflegeheim in Berlin.

Der Roman bietet einen Blick in die erschütternde deutsch/österreichische Geschichte des 20. Jahrhunders an, eine Zeitspanne, die auch den Lebensjahren der eigentlichen Grossmutter und der quasi-fiktiven Grossmutter des Romans entspricht.   Eins der Hauptthemen des Romans ist, in Erpenbecks Worte: “Wer enscheidet mit welchen Gedanken die Zeit erfüllt wird?”  Wahrscheinlich niemand.  Was geschieht, könnte anders geschehen.  Diese Erkenntnis kommt im Roman immer wieder vor; es ist der Grund warum so viele Konjunktivformen der Zeitwörter vorkommen, wie zum Beispiel:

Wäre die Grossmutter nur eine halbe Stunde später von zu Hause fortgegangen…oder wäre die des Lebens müde junge Frau nicht nach rechts…eingebogen…; oder hätte die Verlobte des schäbigen Mannes erst einen  Tage später die Verlobung gelöst;…ja, wäre sie dann ausgerutscht, hätte sich sogar ein Bein gebrochen, dann wäre…
                                                                   S. 135

So geht der Satz, drei Seiten lang.  Also, wenn eine dieser Möglichkeiten wirklich geschehen hätte, so hätte die junge Frau nicht sterben müssen.  Das erste Mal kommt dieses Stillmittel dem Leser interessant vor, aber es wird im Roman zu oft benutzt und bald  eher langweilig wirkt.

Der Vater von Jenny Erpenbeck ist der bekannte Physiker, John Erpenbeck.  Wie jeder, der für die Wissenschaften interessiert ist, weiss, spielt der Zufall in der Quuatumphysik eine führende Rolle.  Erpenbeck hat diese unheimliche Tatsache wohl von Jugend auf gewusst.  Das spürt man gut; das Zufällige ist gleichsam die Hauptfigur des Romans. In einem Teil stirbt die Grossmutter/Tochter; im nächsten steht sie auf und lebt weiter, vom Zufall erettet.  So was hätte geschehen können, aber so was ist nicht geschehen, usw.

Um das unpersönliche Quantumhafte der Welt zu betonen, kommen im Roman kaum Namen vor; nur sachliche Benennungen der Personen lesen wir, die die Beziehungen zueinander darstellen, wie,  zum Beispiel, “die Mutter,” “der Vater,” “die Grossmutter,” usw.  Beim Lesen bekommt man den Eindruck, dass in unserer Quantumwelt König Zufall herrscht; wir Menschen sind nur Blätter, die der Wind hin und her treibt.

Das ist eben das Problem.  Erpenbeck wollte oder wahrscheinlicher konnte nicht Charaktere schaffen.  Ideen sind wichtig, aber in der Literatur sind lebendige Figuren noch viel wichtiger.  Rauch ohne Feuer erstickt. 

Sympatie hat man mit den Charakteren keine.  Am Anfang ist die Mutter seitenlang  trostlos, als ihr Kind mit acht Monaten stirbt.  Aber wir kennen die namenlose Mutter nicht, und kann also Mitleid mit ihr nicht teilen oder selbst verstehen.  Nach dem Tod der Tochter im Konjunktiv; nach dem Tod der auferstandenen Tochter im Konjunktiv; nachdem die DDR-Schriftstellerin ausgerutscht ist und noch einmal stirbt, aufersteht sie noch mal im letzten Teil, um dann mit 90 Jahren in einem Pflegeheim endgültig zu verschwinden.  Ihr Sohn ist auch, wie die Mutter in Galizien, seitenlang trostlos.  Aber wenn ein Schattenriss ausradiert ist—was geht das den Leser an?

Im Roman geht hundertjahrelang alles schief.  Wenn etwas Gutes den Hauptfiguren geschehen hätte—und kein Jahrhhundert in der Wirklichkeit verläuft--selbst in Siberien—ohne mildere Tage, erfahren wir es nicht.  Nur Misere, nur Tod, nur Pech verfolgen uns, fast auf jeder Seite.

Hier ist der letzte Satz des Romans:

Viele Morgende wird er in dieser Frühe, die ganz allein ihm gehört, aufstehen und in die Küche gehen, und dort wird er so weinen, wie er noch niemals geweint hat, und dennoch wird er sich, während ihm der Rotz aus der Nase läuft, und er seine eigenen Träne verschluckt, fragen, ob diese merkwürdigen Laute und Krämpfe  wirklich alles sind, was dem Menschen gegeben ist, um zu trauern.
                                                                                                                                                                 S. 283

Für Erpenbeck betrübt das Leben pausenloses Rotzwetter, dessen traurige Tropfe  aus den Nasenlöchern des Zufalls auf die Menschen fallen, die man, mit seinen eigenen Tränen vermischt, verschlucken muss.  Ekelhaft-traurig sind die dicken Rotzwolken, durch welche die Sonne nie bricht—eine lange Reihe von solchen Tagen drückt den Leser so sehr, dass er gleichsam ein Fenster vor einer besseren Welt öffnen muss, um nach frische Luft zu schnappen.

Ach, diese Deutschen mit ihren trüben Ideenromanen, sagte ich mir.  Wie ein bekannter ungarischer Schriftsteller behauptete, kommt oft in deutschen Romanen nur der Kopf vor.  Wo ist das Herz? Wo ist de Leidenschaft? Völlig verheimlicht, mit Ideen bedeckt!

Ach diese Deutschen mit ihren Kopfwerken!  Aber da habe ich Unrecht.  Nachdem ich diesen Roman beendigte, nahm ich “Ich und Kaminski,” einen Roman von Daniel Kehlmann zur Hand—Dieser von Kopf und Körper geprägter Roman lebt von der ersten Seite an!

“Ich und Kaminski,” das unsere Gruppe demnächst liest, bespreche ich in der nächsten Rezension, die ich kurz nach unserem nächsten Treffen am 11. Dezember 2016 posten werde.  Ich lade Euch ein, ihn mitzulesen, und freue mich auf Eure Kommentare.  Jene Rezension wird positiver als diese sein, das verspreche ich Euch!



Anmerkungen

Mein besonderer Dank gilt Mary Upman vom Deutschen Literaturkreis in Baltimore.  Sie hat diese Rezension vorsichtig korrigiert and verbessert  Vielen Dank, Mary!

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