4.05.2017

Rezension: F, ein Roman von Daniel Kehlmann

F
Daniel Kehlmann
Rowohlt Taschenbuch Verlag
Hamburg, 2014
380 Seiten




Daniel Kehlmann wird immer besser mit der Zeit. "F" ist ein psychologisch raffinierter, sorgfältig aufgebauter Roman.  Das Thema des Romans ist Identität. Was heisst das,  eine Person zu sein? Was geschieht, wenn  das Ich bei Jungen nicht enfalten kann, weil kein Vater vorhanden ist?  Nichts Gutes.  “F” handelt sich um drei Jungen, einen  Halbruder und ein Zwillingspaar. Jeder ist auf seiner Weise psychologisch belastet, weil der Vater meistens abwesend war, und, selbst wenn er nach langen Jahren  wie aus der Luft erscheint, kommt er wie ein egozentrischer, liebloser, in Gedanken vorlorener Fremder vor, der schnell wieder verschwindet.

Ein ernstes Buch, aber mit leichter Hand geschrieben.  Keine Blindwurmsätze hier--Wie Kafka, schreibt Kehlmann klar und direkt; keine langen philosophischen Abzweigungen kommen vor.   Der Roman ist mit Szenen aufgebaut; “F” wäre eine gute Wahl fur einen Film.  Die Handlung ist so schlicht und plastisch, dass man sich nicht viel Mühe geben müsste, um daraus ein Drehbuch zu machen.

Der Halbruder Martin, der von Geburt an vaterlos aufwuchs, ist schüchtern und passiv.  Er ist in eine Lebenssackgasse geraten: er ist ein glaubensloser Priester.  Sein Trost ist Essen.  Eine komishce Stelle kommt vor, als ein Mann ihm eine Beichte ablegt, und plötzlich entdeckt, dass der Priester nicht zuhört, sondern isst.  Es handelt sich um einen Mann, der sich schuldig fühlt, weil er zuviel trinkt:

Sie essen!
“Kommen Sie in zwei Tagen wieder.”
“Hören Sie auf zu essen!"
"Ich esse nicht."
"Im Beichtstuhl!" 
"In zwei Tagen.  Wenn Sie nicht getrunken haben. Dann kommen Sie wieder!"
Das Holz knarrt, er geht.  Ich zerknülle die leere Metallfolie und denke an den zweiten Riegel.  Er ist noch in meiner Tasche, und dort wird er auch bleiben.
Ich ziehe ihn aus der Tasche.
                                                     
                                                             --S. 99-100

Humor, der hinter Unglück und Sinnlosigkeit steckt, ist ein Kennzeichen von Kehlmanns Prosa in diesem Roman. Zu manchen, die ihren Glauben verloren haben, kommt Trost, wenn sie ernst versuchen, den Nachbarn  wie sich selbst zu lieben.   Hier kommen Humor und Entwicklung der Handlung zusammen: Martin denkt nur an sich selbst. Sein Egoismus ist hier klar und komisch geschildert.

Der erste Bruder, Martin, scheitert an Narzissmus und Zwecklosigkeit.  Der zweite, Erik, wird ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann.  Aber er ist leider  wahnsinnig: besessen, von Visionen verfolgt, huscht er gehetzt und angstvoll durch das Leben.  Unehrlich ist er auch: als Finanzberater,  betrügt er seine Kunden.  Glück hat er: gerade als seine List und Diebstähle zum Licht kommen, erettet ihn die Wirtschaftskrise von 2009, weil dann Geldverlieren normal geworden ist. 

Der andere Zwilling ist weniger seelisch belastet.  Obwohl er, verwundet wie seine Brüder, sich vor die Öffentlichkeit schützt, hat er Tatent.  Er nimmt den Namen eines eben gestorbenen Malers an, malt Gemälde in seinem Stil, und wird dadurch berühmt.  Seine Gemälde hält man für neuentdeckte Werke des Verstorbenen. Da hat Iwan zwei Vorteile: er kann arbeiten, ohne vor das Publikum kommen zu müssen.

Iwan ist der Einzige von den drei Brüdern, der gewissermassen glücklich ist, weil er das tut, was er liebt.  Martin wird Priester, um sich vor das Leben zu verbergen.  Erik wird ein verrückter sogenannt Erfolgreicher, weil er von Kindheit an Macht will, vermutlich weil er als ein machtloses, verlassenes Kind aufwuchs.

Kehlmann ist sicher kein Optimist; zum Happy End lässt er es nicht kommen. Weil Freude an seiner Arbeit ihn menschlicher und hilfsbereiter macht, greift Iwan automatisch bei einem Strassenstreit ein, um einem Geprügelten Beistand zu leisten, und wird sofort erstochen.  Sehr ironisch ist das--Es ist das erste Mal in seinem Leben, als er sich selbtbewusst genug fühlte, um seinen Mitmenschen zu helfen. Seine erste gute Tat bringt ihn aber um das Leben.  

Dagegen kümmern sich Erik und Martin um niemanden; wenn Gelegenheiten für Martin vorkommen, Gutes zu tun, hilft er anderen nur in seinen Gedanken.  Und er ist Geistlicher!

Wichtig für die Auslegung des Werkes ist ein Roman im Roman, “Mein Name sei Niemand," den der Vater verfasste, nachdem er beide Familien verlassen hatte.  Hier beschreibt Kehlmann den zweiten Teil jener Schrift:

Im zweiten Teil geht es um etwas anderes.  Darum nämlich, so versichert der Autor, dass du, jawohl du, und das ist keine rhetorische Wendung, dass also du nicht existierst.  Du meinst, du liest das hier?  Selbtverständlich meinst du das  Aber hier liest keiner…Es gibt keine Farben, sondern Wellenlangen, es gibt keine Töne, sondern schwingende Luft...
                                                                                                                                                                       S 87

Die Wahrheit will dich Brei machen, eine Suppe von Materie.  Es gibt keine Seele, nur ein Wizard of Oz, der im Gehirn an die Hebel geht, um sich täuschene Bilder und Gedanken vorbringen zu lassen, welche wähnen, dass solches eine Person ausmacht.

Ist das aber so traurig?  Viele Wissenschaftler sind damit einverstanden, ohne das Leben sinnlos zu betrachten.  Es ist auch ein Kernbegriff des Buddhismus: anatta, “nicht atman”, d.h. es gibt kein dauerhaftes Ich hinter Gedanken und Erfahrungen.  Die Einsicht macht Buddhisten eher heiter und selbst(los)zufrieden als verstimmt. Ich bin auch dieser Meinung, und leide nicht darunter.

Aber für Westlichen, (und auch für die meisen Östlichen), ist ein an Existenz bedrohtes Ich Grund zur Panik.

Kehlmann schreibt im Roman, dass nach dem Lesen von "Mein Name sei Niemand",  wie beim Lesen von "Die Leiden des Jungen Werther" im 18. Jahrhundert, Selbstmordfälle vorkommen.  Ein Film könnte vieleicht ein paar Zuschauer dazu verleiten, sich das Leben zu nehmen. aber ein Roman in dieser Zeit? Ich finde das höchst unwahrscheinlich. Es ist nicht so schlimm, Herr Kehlmann, dass das Ich  nicht im absoluten Sinn vorhanden ist: wir leben unter Relativitäten—Wir sind eine sogar.  Das Ich ist im tiefsten Sinn zwar eine Illusion, aber wir sind, sagen wir, 99% Illusion, sonst hätte unsere Gattung nicht überleben können.  Dass man wähnen kann, dass man apart von der Natur lebt, ist ein schöner und notwendiger Trick der Evolution.  Ohne diesen Trick hätte man keine Werkzeuge, keine Musik, keine Schriftsteller. 

Der ichlose Mensch, der immer die andere Wange hinhält, wird sehr schnell "sein" ichloses Grab finden.  ("Wer lebt durch das Schwert, stirbt durch das Schwert--Aber wer gibt das Schwert auf, stirbt am Kreuze."--Simone Weil).

Einige Elemente der Handlung sind übertrieben. z. B.: Der Junge, der Iwan das Leben nahm, beichtet vor Martin, und wird sogar, aus Schuldgefühl, und auch weil Martin keine bessere Weise weiss, um von ihm loszukommen, sein Assistent.  Unwahrscheinlich! Aber das ist eine Nebensache.

Kehlmanns Buch ist eine grosse Leistung. Im Grunde ist Kehlmann, wie Kafka,  ein Schwarzseher--ein Eyore mit Humor, eine erfrischende Verknüpfung.   Ich habe den sicheren Eindruck, dass die Ichlosingkeit des Lebens für Kehlman eine trauige Sache sei. Aber für mich, der mehr oder weniger (mehr weniger) Buddhist ist--ich weiss, dass ich zwar im Grunde ichlos bin, aber trotzdem "ichig" handeln kann und muss--leben wir doch auf dem Boden, auf der Oberfläche der Erde--unterhält dieser Roman von der ersten bis zur letzten Seite.



Anmerkungen

Mein besonderer Dank gilt Mary Upman vom Deutschen Literaturkreis in Baltimore.  Sie hat diese Rezension vorsichtig korrigiert and verbessert  Vielen Dank, Mary!

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