AMON
Mein Grossvater hätte mich erschossen
von Jennifer Teege und Nikola Sellmair
Rowolt Taschenbuch Verlag
Hamburg, 2013
266 Seiten
Wie würdest du reagieren, wenn du, in einer grossen Bücherei, ein Buch von den Regalen nimmst, dessen Autor deine eigene Mutter ist? Rein zufállig. Du hattest ja keine Ahnung, dass deine Mutter, die längst aus deinem Leben verschwunden ist, etwas geschrieben hatte. Mit Freude? Mit Angst? Aber dann kommt ein grosses Erschrecken: du entdeckst, dass ihr Vater—dein Grossvater—ein KZ in Polen geleitet hatte, wo viele Juden ermordet waren. Er hat sogar einige selbst erschossen. Ein Lustmörder. Ein Sadist. Das ist dein Blut. Was könnte schrecklicher sein?
Das ist genau was Jennifer Teege passiert ist. Ihr Buch, Amon: mein Grossvater hätte mich erschossen, erzählt eine Geschichte, die fast so störend wirkt, als der Moment Ödipus endlich erkennt, dass Iokaste seine Mutter ist.
Die Autorin erzählt uns über ihre Reise in die Hölle und zurück mit Talent, obwohl dem Leser klar wird, dass sie keine Schriftstellerin ist. Ihren Beschreibungen fehlt an Anschaulichkeit; das dramatsche Element vermisst man auch. Sie berichtet; sie zeigt nicht. Fast keine Diologe kommen vor, selbst wenn Jennifer ihre Mutter nach vielen Jahren wiedersieht. Am Ende des Buches kennen wir Jennifer ziemlich gut; alle anderen Figuren bleiben schattenhaft. Dann und wann hilft ihr Nikola Sellmair, eine Journalistin, die Nebenbemerkungun hinzufügt. Aber, wie schon erwähnt, erzählt sie ihre Geschichte mit Talent; sie ist sehr lesenswert. Ein yiddisches Sprichwort ist hier angebracht: es iz gut, ibergekummne tsuris zu darstellen, (Es ist gut, überstandenes Leid darzustellen.) Ihr Buch ist eine Erfüllung des Sprichworts.
Teege ist die Tochter einer weissen Deutschen und eines Vaters, der Emigrant aus Nigerien ist. (Zwei Kainzeichen!) Von ihrer Mutter verlassen, als einzige Schwarze in einem nordeutschen Kinderheim zu sein wäre doch schlimm genug. Alle jungen Weissen waren längst adoptiert, bis sie mit zwei Jahren an die Reihe kam. Jennifer ist aber offen und liebenswürdig. Das erste Kainzeichen weicht: eine kultivierte, gutmütige, und ziemlich reiche bürgerliche Familie ist von ihrer Persönlichkeit bezaubert. Sie wächst inmitten einer stabilen Familie auf; sie hat sogar zwei Brüder, die sie von Anfang an als ihre Schwester behandeln.
Dann, mit 38 Jahren, trifft sie die Vergangenheit wie ein giftiger Pfeil tief ins Herz. Ihr Grossvater, Amon Göth, war der unmenschlicher Bösewicht, der Ralph Fiennes im Film, “Schindlers Liste” verkörperte. Göth war der Leiter des Plaszówer KZ-Lagers, in der Nähe von Krakau. Vom Balkon seiner Villa erschoss er Menschen, als ob sie Tauben wären. Er war verantwortlich für den Mord von Abertausenden. Nach dem Krieg wurde er in Polen hingerichtet.
Jennifers Mutter wurde kurz nach dem Ende des Krieges in Westdeutschland geboren. Amon war die grosse Liebe von Jennifers Grossmutter, die den Unmenschen bis zum Ende ihrer Tage verteidigte. Das Leben ihrer Tochter war verwirkt. Sie war vom Schicksal zu schwer betroffen, um ihre Tochter allein aufzuziehen. (Aber nicht ganz; sie holte ihr Studium nach, heiratete, hatte noch ein Kind, und schrieb jenes Buch, das Jennifer in der Bücherei fand: “Ich soll meinen Vater lieben, oder?”)
Als Jennifer sehr jung war, sah sie oft ihre
Grossmutter. Sie, immer modisch
angezogen und sorgfältig geschmückt, war sehr gut zu Jennifer, was für die
Letztere äusserst wichtig war, weil sie sonst kein Familienleben genoss. Wir lernen aber etwas Schreckliches über
sie. Tom Segev, damals ein junger
Doktorand der Universität Boston, interviewte die Grossmutter für sein Buch, "Die Soldaten des Bösen.” Im Buch "Amon" erscheint das Folgende:
Über die Opfer Amon Gõths sagte Ruth Irene Göth noch zu Tim Segev: “Das waren ja nicht wirkliche Menschen wie wir. Sie waren so verdreckt.”
S. 110
Dieser Satz traf mich ins Herz wie ein mit Gift geschmierter Dolch. Denk ich an Deutschland in der
Nacht…
Jennifer, die sich jetzt als ein Kind der Täter betrachtet, studiert deren Lebensgeschichten. Die meisten sind sehr düster. Kennzeichnend für sie aber ist die Weltanschaung von Ferdinand von Shirach, dem Enkel des Reichsjugendführers Baldur von Schirach:
Jennifer, die sich jetzt als ein Kind der Täter betrachtet, studiert deren Lebensgeschichten. Die meisten sind sehr düster. Kennzeichnend für sie aber ist die Weltanschaung von Ferdinand von Shirach, dem Enkel des Reichsjugendführers Baldur von Schirach:
Die Schuld meines Grossvaters ist die Schuld meines
Grossvaters. Das Bundesgerichtshof sagt,
Schuld sei das, was einem Menschen vorgeworfen werden könnte.
S.
181
Der Enkel des berücktigten Nazi ist Advokat und Schriftsteller, der für viele Bestsellers und Kurzgeschichtensammlungen bekannt ist, die nicht nur im deutschen Sprachgebiet populär sind. (Interessant: einer seiner Vorfahren war unter denen, die die amerikanische Declaration of Independence unterschrieben hatten.) Jennifer hat diesen Weg eingeschlagen, nicht der Weg zum Abgrund, dem die Mutter nicht entkommen konnte. Jennifer ruft die Mutter an, sie treffen sich in einem Restaurant. Monika Göth redet nur über die Vergangenheit. Am Ende des Gesprächs umarmeren sie sich kurz. Keine Tränen.
"Warum hast Du mich verlassen?" ist die Frage, die Jennifer lebenslang ihrer Mutter gestellt hat. Ich finde es aber gut, dass die Mutter sie adoptieren liess. Jennifer wuchs in einer gesunden Familie auf. Sie ist eine kluge, selbstsichere Frau. Sie ist glücklich verheiratet und hat zwei normale Söhne. Sie wäre wohl nicht so erfolgreich, wenn sie bei einer deprimierten Mutter wohnte. Die Vergangenheit, die eine schwere Last für ein junges Mädchen wäre, ist viel leichter zu verabeiten, wenn sie einer mit 38 Jahren zuerst zur Kenntnis kommt. Jennifer hatte schon längst eine gesunde Persönlichkeit, die nicht zulassen könnte, dass sie unter dem Druck der Vergangenheit sänke.
Manchmal wähnt man, dass das Schicksalsrad ein Leitner
hat. Ehe sie etwas über Amon Göth erfuhr, studierte die junge Jennifer vier Jahre in Israel. Sie spricht fliessend hebräisch und hat
einige enge israelitische Freunde. Jahre
später bekennt sie ihnen ihre unschuldige Schuld. Die erschrockenen Freunde
aber bleiben ihr treu. Sie fahren
gemeinsam mit einer Klasse von jungen Israelis zum KZ-Lager in Polen. Sie legt Blumen vor die Gedenknisstätte. Die Studenten sind nicht böse mit Jennifer. Ein Mädchen sagt, dass sie endlich begreife,
dass auf eine ganz anderer Art auch Jennifers Familie und Jennifer selbst gezeichnet
sind. Dass auch sie ein Trauma mit sich
träge. Sie glaube aber noch an das Gute
in den Herzen aller Menschen. ("Fast aller Menschen," glaube ich, kommt der Wahrheit näher.)
So endet die Geschichte einer intelligenten, ausgeglichenen
schwarzen Deutsche. Denk ich an
Deutschland in der Nacht… Ist der Sonnenaufgang nah?
Anmerkungen
Mein besonderer Dank gilt Mary Upman vom Deutschen Literaturkreis in Baltimore. Sie hat diese Rezension vorsichtig korrigiert and verbessert Vielen Dank, Mary!
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