Nacht ist der Tag
Peter Stamm
Fischer Taschenbuch
Frankfurt am Main, 2015
253 Seiten
Nacht ist der Tag
Was ist das Ich? Kann man eine
echte Beziehung haben, ehe man eine echte Beziehung zu sich hat? Ein Thema, das Gedanken auslöst und dem
philosophisch veranlangten Leser vielen Anlass gibt, mit ihm auseinanderzusetzen. Aber er ist kein Luftroman; die Erde steht
fest unter den Füssen des Autors. Einem
Leser, der nicht so sehr für Philosophisches interessiert ist, bietet Stamm
eine gute Geschichte, die mit sehr viel Kunst erzählt worden ist; dem Leser, der über den
Stoff nachdenken möchte, bietet er beides. Einen Erfog auf beiden Ebenen hat uns
Stamm gegeben.
Im Roman kommen zwei Hauptfiguren vor, Gillian, eine Moderateurin bei einem Fersehsender, und Hubert, ein Künstler. Sie sind Gegenpole; Gillian fehlt gleichsam ein Gesicht, weil sie kein festes Ichgefühl hat, und dem Künstler fehlt gleichsam ein Körper, weil er nur an seine Kunst denkt und sich selbst dabei vernachlässigt. Gillian ist ein Null am Anfang; die Handlung ist mehr oder weniger ihre Reise von einem Null zu einer Person, die endlich weiss, wer sie ist und was sie will. Das klingt banal, aber Stamm schildert mit grosser Kunst und Vielseitigkeit jemanden, den Erfahrung endlich reifen lässt. Dem Leser der wähnt, dass der Roman mit einem Hollywood Ende schliessen wird, wird aber am Ende keine übel riechende Lösung vor die Nase kommen.
Ein Kunstgriff des Autors besteht darin, dass er virtuos in der Erzählung Rückblenden benützt. Manchmal ist einem zuerst der Zusammenhang nicht klar, bis er einige Seiten weiter liest. Die Rückblenden sind sehr sorgfältig aufgebaut; die Handlung entfaltet sich ohne lose Stricke nahtlos bis zum letzten Wort.
Zuerst studierte Gillian Theater, und wurde Schauspielerin vom zweiten Rang. Im Leben ist sie auch eine Schauspielerin vom zweiten Rang: sie spielt immer eine Rolle, weil keine selbstbewusstee Person hinter ihren Augen steckt, die sie zulässt, dementsprechend zu handeln. Im folgenden Zitat ist ihr unruhig geworden, während Hubert sie photographiert:
Gillian war schon oft photographiert worden, aber dabei war es immer
um die Rollen gegangen, die sie spielte, erst im Theater, dann in der
Öffentlichkeit. Sie hatte sich vor der
Kamera in Posen geworfen, hatte Haltungen eingenommen, die sie aus den
Illustrierten kannte.
S.99
S.99
Die Lehrer in der Schauspielschule haben diese Tendenz, sich hinter
einer Maske zu verbergen, bemerkt und kritisiert:
Sie musste an ihre erste Zeit an der Schauspielschule denken, wenn ihr
Lehrer sie kritisiert hatte: Du spielst, hatte er immer gesagt, sei du selbst,
zeig dich.
S. 103
S. 103
Das eben kann sie nicht. Sie
verlässt das Theater, und wird eine Moderateurin beim Fernshen. Das passt ihr; ihre Aufgabe bei Interviews
ist persönliche Fragen zu stellen und nicht persönliche Fragen zu beantworten.
Der Roman beginnt als Gillian, halbbewusst, träumt, dass sie im Wasser
schwebt. Als sie zu sich kommt und aus
dem Wasser taucht, findet sie sich im Krankenhaus. Sie war in einem Unfall
schwer verletzt. Ihr Mann ist tot; ihre
Nase ist weg, ihr Gesicht ist zerstört.
Die Tatsache ist doppelt erschreckend für sie: mit ihrem Gesicht hat sie
ihre Maske verloren. Jetzt muss das
innere Ich zum Vorschein kommen, aber in ihrem Fall ist keines da. Was ist sie jetzt? Nichts, nichts, nichts.
In der ersten Rückblende entdecken wir, was geschehen ist. In einer Schublade endeckte ihr Mann Fotos von ihr, in denen sie völlig nackt vorkommt. Er ist wütend. Betrunken auf dem Weg nach Hause fahrend, rammt er einen Reh und ist sofort tot. Gillian wacht später auf mit zerstörtem Gesicht.
In der nächsten Rückblende erfahren wir wie die Fotos entstanden sind. Gillian hat einen Künstler namens Hubert interviewt. Er photographiert nackte Frauen. Nichts Lüsternes liegt in diesem Vohaben; die Frauen sind alt und jung, schön und unaktraktiv. Seine Absicht ist immer sachlich: er will Fotos machen in denen die innere Natur durch den Körper zum Vorschein kommt, so wie Matisse Farben benutzt hatte, um die innere Natur seiner Welt zu entdecken. Hubert verführt keine der Frauen.
Hubert faziniert Gillian. Sie
verabreden sich. In Huberts
vernachlässigtem Atelier zeichnet er sie. Unmöglcih! Sie habe keine Präzenz. Gillian flirtet. Er lässt sie schroff wissen, dass seine Freundin
ein Kind erwartet. Bemerkenswert ist, was
er nicht sagt: dass er seine Freundin liebt.
Das einzig Wichtige ist für ihn die Kunst. Sie will trotzdem dass sie sich in die Arme fallen. Er sagt ihr kurz angebunden dass sie das Haus verlassen müsse. Und das tut sie.
Sechs Jahre sind verflossen.
Jetzt heisst Gilian, mit neuem Gesicht, Jill. Sie
leitet Programme in einem Ferienhaus in einem entlegten Dorf in den Bergen. Sie ist nett. Die Gäste sind nett. Vermutlich ahnt Jill im Innern wie
langweilig ihr Leben ist. Dem Hotel
nebenan ist das Kulturzentrum, wo Hubert vor Jahren seine Aktenbilder ausstellte. Sie redet den Direktor überein, Herbert
einzuladen, um eine neue Austellung abzugeben.
Hubert will nicht zuerst, weil er schon längst in eine Schaffenskrise
gefallen ist. Endlich willigt er ein. Jill und Hubert kennen sich teilweise wieder
und teilweise zum ersten Mal. Er bekennt, dass ihn seine Frau Astrid verlassen hat, weil er "sich nicht öffnen kann."
Hubert und Jill werden ein Paar. Aber Astrid liebt Hubert noch; ihr neuer Freund ist ein unzulänglicher Ersatzmann. Lukas, Huberts Sohn, besucht sie in den Bergen. Jill entdeckt, dass sie--ihr wirkliches Ich--Kinder liebt. Sie bringt Lukas ins Bett; sie reden über einen Bär, den Lukas in der Umgebung sah:
Hast du ihn gesehen?, fragte er.
Nein, sagte Jill. Er ist sehr scheu, er zeigt sich nicht gern.
Hat er keine Familie?, fragte der Junge.
Nein, sagte Jill, Ich glaube, er ist noch jung. Er streunt ein bisschen herum and schaut sich die Welt an. Ich glaube, Bären sind gern allein.
Ich nicht, sagte Lukas.
Ich auch nicht, sagt Jill. Sie küsste den Jungen auf die Stirn und rief nach Hubert.
S. 232
Hubert und Jill werden ein Paar. Aber Astrid liebt Hubert noch; ihr neuer Freund ist ein unzulänglicher Ersatzmann. Lukas, Huberts Sohn, besucht sie in den Bergen. Jill entdeckt, dass sie--ihr wirkliches Ich--Kinder liebt. Sie bringt Lukas ins Bett; sie reden über einen Bär, den Lukas in der Umgebung sah:
Hast du ihn gesehen?, fragte er.
Nein, sagte Jill. Er ist sehr scheu, er zeigt sich nicht gern.
Hat er keine Familie?, fragte der Junge.
Nein, sagte Jill, Ich glaube, er ist noch jung. Er streunt ein bisschen herum and schaut sich die Welt an. Ich glaube, Bären sind gern allein.
Ich nicht, sagte Lukas.
Ich auch nicht, sagt Jill. Sie küsste den Jungen auf die Stirn und rief nach Hubert.
S. 232
Hubert und Jill sind endlich glücklich. Ihre Beziehung hat eine neue Schaffensperiode für Hubert mit sich gebracht. Das Hollywood Ende kommt aber nicht. Hubert besucht Astrid, weil sie in eine Krise geraten ist. An dem Abend seines erwartenten Rückkehrs sagt er telefonisch plötzlich ab. Jill sieht ein, dass er wohl nicht wieder kommen werde.
Sie ist verzweifelt. Sie geht zu einem "Open-Air" wo die meisten Teilnehmer sehr viel jünger als sie ist. Sie nimmt eine Pille, vielleicht LSD. Sie verliert das Bewusstsein; sie tuacht gleichsam ins dunkle Wasser wieder wie am Anfang des Romans. Aber als sie aufwacht steht hinter ihrem neuen Gesicht ein neues Ich. Jetzt ist sie endlich ihre eigene Person:
Jill stand unter der Dusche, wusch sich den Dreck von den Füssen und wusste plötzlich dass sie würde ihre Stelle kündigen und weggehen von hier. Nicht gleich, sie hatte keine Eile. Vielleicht würde Hubert mit ihr kommen, um gemeinsam irgendwo neu anzufangen, aber ihre Entscheidung hatte nichts mit seiner zu tun. Das Speil war zu Ende, sie war frei und konnte gehen, wohin sie wollte.
S. 252
Wird sie in der Zukunft glücklich sein? Vielleicht, vielleicht nicht. Ein einsamer Triumph ist der Ihre am Schluss; aber wie Michel Houellebecq in seinem neuen Roman, Soumission, fesstellt, sind Unabhäningkeit und Glück sehr oft Gegensätze. Die Beziehung zu anderen und die Beziehung zur Umwelt ist was die Menschen glücklich macht, selbst wenn man dabei seine Unabhängigkeit verliert. Das ist das Haupthema von Houellebecqs Bestseller. Das ist aber ein anderer Roman, dessen Weltanschaung--leider--wenigstens teilweise gültig ist. Aber nur teilweise--Stamms steht fest auf seinen eigenen Beinen; der Roman braucht sich Soumission nicht zu unterwerfen.
Anmerkungen
Mein besonderer Dank gilt Mary Upman vom Deutschen Literaturkreis in Baltimore. Sie hat diese Rezension vorsichtig korrigiert and verbessert Vielen Dank, Mary!
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