11.19.2014

Rezension: "Die Letzte Welt" von Christoph Ransmayr

Deutscher Literaturkreis Online




Die Letzte Welt
Ein Roman von Christoph Ransmayr
Fischer Taschenbuch Verlag
Frankfurt am Main
16. Auflage: Mai 2012

"Die letzte Welt" hat mir wohl besser gefallen als alle anderen Romane der Neuzeit, die ich gelesen habe--und ich habe viele gelesen.  Er befriedigt auf verschiedenen Ebenen: das Thema, des Autors Sprachfertigkeit, und die tiefe Bedeuting, die hinter den Worten steckt.  


Das Thema

Wenn man sich bis zum Ende treu bleibt, und gar nicht scheucht, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen, wird man nach vielem Leiden das Wichtigste entdecken und verwirklichen.  Das Thema ist, mit anderenWorten, Tranzendenz--Erst nach der Kreuzigung kommt die Auferstehung.  Symbolisch gemeint, kommt ein neues Leben nicht selten vor, und  Geschichten, in denen jemand trotz sehr vielen Schwierigkeiten am Ende triumphiert, sind Menschen von allen Kulturen verständlich.  Dieser Roman ist ein sehr
hintergründiges Beispiel dieser Weltanschaung.

In "Die Letzte Welt"  finden wir eine Mischung von historischen und mythologischen Figuren.  Obwohl die Handlung  sich in der antiken Welt abspielt, kommen viele Anakronismen kommen vor--wie, zum Biespiel, die Mikrofonen, die Ovid ungeben, während er seine fatale Rede hält.  Die Anakronismen sind vermutlich
da zu zeigen, dass die Probleme jener Zeit den unsrigen ähnlich sind.  Cotta, ein Freund von Ovid, sucht Spuren des verschwundenen Autors in Tomi, einer barbarischen Stadt am
Schwarzen Meer, wohin ihn der Kaiser Augustus verbannt hat.  Cotta  möchte herausfinden, ob ein Manuskript von "Die Metamorphosen," Ovids Hauptwerk, existiert; das Original ging in Flammen auf.  Cotta kann Ovid nicht finden, aber etwas  Wunderliches geschieht--die Barbaren von Tomi  nehmen Namen und Merkmale von Figuren in "Die Metamorphosen" an.  Am Ende hat Cotta eine Epiphanie und findet, anstatt der dürren Landschaft von Tomi, Olymp unter seinen Füssen.



Die Sprachfertigkeit

Die Bildhaftigkeit, der Rythmus  und die Sprachmelodie von Christoph Ransmayrs Prosa sind ersten Ranges.  Als Beispiel zitieren wir den ersten Satz:

Ein Orkan, das war ein Vogleschwarm hoch oben in der Nacht, ein weisser Schwarm, der rauschend näherkam und plözlich nur noch die Krone einer ungeheruen Welle war, die auf das Schiff zusprang.  Ein Orken, das war das Schreien und das Weinen im Dunkel unter Deck und der saure Getank des Erbrochenen.  Das war ein Hund, der in den Sturzseen toll wurde und einem Matrosen die Sehnen zerriss.  Über die Wunde schloss sich die Gischt. Ein Orkan, das war die Reise nach Tomi. 

                                                                                            S. 7-8

So viele treffenden und schönen Metaphern kommen im Roman vor!  Ein Beispiel: "...die Taubstumme wusste nichts vom Lärm ihres Hauses, hörte die Tonleitern des Verfalls ebsowenig wie Cottas Schläge ans Tor"(S. 168.)  "Tonleitern des Vefalls"  --der Wind spielt wie ein Teufelskind  auf die Eisenläden wie auf
Tasten--das gefällt dem Musiker in mir.


Der Inhalt, Eine Interpretation

Aber es ist der Inhalt, der uns am meisten fesselt.  Der Roman betont die Verwandlungen, die Metamorphosen, die die Zeit unabänderlich mit sich bringt. "Keinem bleibt seine Gestalt" liest Cotta auf einem verfallenen Fähnchen, Worte von Ovid, als Cotta die Ruine der Villa besucht, wo Ovid als Verbannter wohnte.  Die ersten Verwandlungen sind grausam. Ovid, unmittelbar vor seiner Verbanning, hielt eine Rede zur Öffnung eines grossen Stadions in Rom. Er war nur einer von vielen Rednern, obwohl er unter den Bewohnern Roms sehr populär war.

Eigentlich wollten die Bürokraten und die politischen Handlager, feststellen, ob er ihre Macht bedrohte, und ihn aus dem Weg schaffen, wenn das der Fall sein sollte.  Wie erwartet, priessen alle anderen Redner den Kaiser mit vielen blumigen Sätzen, als ob er ein Gott wäre.  Die einzige Ausnahme ist ein Mann, der sich in allen Umständen treu bleibt.  Ovid beginnt seine Rede  mit "Bürger von Rom."

Er erzählt von einer Pest, die eine Insel verwüstete, eine Pest, die kein Mensch überstand.  Die Leichnamen liegen überall.  Sie verfaulen auf den Strassen.  Dann steigen Amerisen von einer Eiche hinab und bedecken die Toten.  Dann werden alle wiederbelebt--als Ameisenmenschen.  So symbolisiert Ovid seine gefährliche Behauptung, dass der totale Staat die Seele und die Körper der Bürger abtötet.

Als der Roman 1988 erschien, bekam er kein Druckerlaubnis in Rumänien, damals noch eine Diktatur, weil man Ovids Rede auf die rumänischen Verhältnisse in Bezug nehmen könnte.  Der Autor beobachtete, "Ich habe damals eine fast kindliche Genugtuung empfand, dass ein Betroffener, der Zensor, eine Passage der
Letzten Welt durchaus richtig verstanden hat."

Der Kaiser hört nichts; er schnarcht.  Aber seine Ratgeber passen gut auf.  Ovid ist sofort auf ein Nestchen am schwarzen Meer lebenslänglich verbannt.  In der barbarischen Stadt Tomi verbreitet Echo, eine Figur aus "Die Metamorphosen," die jetzt eine "wirkliche" Frau ist, Ovids Geschichten überall.  Die Barbaren werden durch Ovids Einbildungskraft ziviliziert: sie nehmen die Merkmale und Namen der Charaktere an--sie verwandeln sich in lebendige Literatur.  Alle Geschichten werden zu Ende erzählt, bis zum Ende erlebt.  Ein anderer Name für Ovids Haputwerk ist "das Buch der Steine."  Alle werden zu Stein mit drei Ausnahmen: Ovid,
Cotta und Arachne.  Warum nur diese drei?

Arachne ist eine echte Künstlerin, eine Weberin.  Sie ist taubstumm, also in sich gekehrt und kann sich nur durch Kunst mit den Leuten der Umwelt verständigen.  Ihre Webbilder rufen "eine heimliche Sehnsucht nach einer fremden Welt"  hervor.  Als sie ihre Fensterläden aufstösst, hört man "das ohrentäubende Gezeter der Möwen."  Auf ihren Webbildern sind die Vögel, die in den Himmel steigen,  so bildhaft geschildert, dass man meint, dass sie aus dem Teppich in den Himmel von Tomi fliegen werden.  Diese
Teppichvögeln und die Möwen sind Symbole der Tranzendenz; sie sind "die Zeichen der Befreiung aus aller Schwere."  Der wahre, bis zum Ende beharrende Künstler steigt gleichsam mit in die Wolken; die Vögeln  kommen wieder, sie haben nämlich eine wichtige Rolle am Ende. Arachne entkommt also dem Steinschicksal.

Cotta hat hier eine  wichtige Einsicht: "Er fragte sich, ob die Metamorphosen nicht von allen Anfang an gedacht waren als eine grosse von den Steinen bis zu den Wolken aufsteigende Geschichte  der Natur." Der Künstler spinnt aus seinem Innern eine Bildwelt, die die Natur wiederspiegelt und verklärt--ein altesThema.

Der Fall Arachne ist ein Beispiel eines Aufstiegs; für ein Beispiel eines Absturzes--und im Roman sind viele--ist der Fall von Bautis, dem Fallsüchtiger.  Er hat keine rege Innenwelt wie Arachne; er ist nicht klug, ist vereinsamt und unglücklich.  Ein Schiff, das eben im Hafen gelandet hat, bringt viele Waren für die Einwohner der Stadt. Eine von denen ist ein sogenanntes Episkop, das in  den Besitz von Bautis den Fallsüchtigen kommt.  Das "Wunderwerk" vergrössert selbst "die wertlosen Dinge" des Lebens und zeigt sie schimmernd auf die Wand.  Die imponierten Einwohner wähnen dass die Abbilder heilen können: Man sucht Wundern und ein scheinbarer Wunder geschieht.  Bautis ist übernacht populär geworden  und "lallt" vor Begeisterung.  Aber die Wunder erscheinen sehr selten.  Die Einwohner kommen nicht mehr; Bautis ist vereinsamter, verstörter und unglücklicher denn je.  Er stirbt in seinem Eckchen wie ein Hund und wird zu Stein.

Arachne und Bautis sind Gegenpolen.  Die Weberin hat ein festes Ich; sie ist in sich gegangen und hat viele Wunder geschaffen.  Bautis hat ein schwaches  Ich; der Hoffnungsloser hoft noch auf Wunder von aussenDamit vergleicht der Autor die breite Innenstrasse des Künsters, die zum Glück führen kann, mit der 
Sackgasse religöses Wunschdendenkens.   Hier sehen wir auch ein gutes Beispiel des grossen Könnens des Autors, der uns viele wichtige Sachen des Lebens zeigt und sogar lehrt, ohne je didaktisch zu werden, weil alles so bildhaft und schön erzählt ist.

Wie ich schon angedeutet habe, ist dieser Autor virtuös.  Ein Haupthema ist dass, obwohl man einen Genie misachten kann und viele Schwierigkeiten auf seinen Pfad werfen kann, kann er, wenn er noch weitergeht, seine eigene Welt schaffen--und auch deren Einwohner.  Es ist Ovids Einbildungskraft, die eine Namenslose in die grosse Künstlerin Arachne verwandelt.  Der amerikanisher Kritiker Harold Bloom schrieb Ähnliches über Shakespeare, nämlich, Shakespeare hat Hamlet geschaffen, und Hamlet hat uns 
gewissermassen geschaffen, wenigstens neu gebildet.  Vor Hamlet käme kein Beispiel eines so starken erweiteten Bewusstsein, weder in der Literatur noch im Leben, vor; seine Worte haben seitdem unser Bewusstsein erweitert und erneut.  Wir sind Hamlets geworden, wie die Weberin in eine Figur aus "Die
Metamorphosen" verwandelt worden  ist.  Man denkt auch an die neue Physik, nach welcher der Beobachter eine grosse Rolle spielt, und sogar eine Welle in ein Teilchen verwandeln kann.  Noch treffender ist die hinduistische Philosophie, die behauptet, dass das Bewusstsein primär ist; es schafft die ganze Welt und nicht umgekehrt.  So viele wichtigen Ideen liegen zwischen den schönen Zeilen dieses Romans!

Nicht nur der Inhalt, sondern auch der Stil ist originell.  Im Roman erscheint ein Stilelement, das, so weit ich weiss, zum erstenmal in der Literatur vorkommt.  Das braucht einige Worte zur Erklärung.  Wir kennen zwei Typen von Beobachtern in Romanen; erstens, der sogenannte allwissender-Betrachter--wie bei Kafka--der alles sachlich beschreibt.  Zweitens kommt die sogenannte "erlebte Rede" in dem der Beobachter, ohne Zitatszeichen, in den Kopf von einer Person gerät.  Zum Beispiel, wenn die Person optimistisch ist,  könnte der erlebte-Rede-Beobachter so etwas schreiben: "der Tag war blau und die Vögel, hoch in der Luft, schienen als ob sie mit ihren Körpern wunderschöne Sätze aus Licht mit Satzzeichen versehen wollten."  Und wenn die Gestalt pessimistisch ist, vielleicht schreibt der "erlebte Rede" Beobachter Folgendes: "Der Weg war steinig und schmutzig.  Überall waren Würmer, die sich unter einer barmherziglosen Sonne in den Tod wandten."  In "Die Letzte Welt" kommt etwas ganz Neues vor, was ich "erlebte Erde" nenne.  Als Cotta in Tomi ankam, war die Küste flach.  Als "das Buch der Steine" zu Ende kommt, und die meisten Einwohner zu Stein geworden sind,  ragen Steine auch in der Landschaft auf.  Auf der letzten Seite lesen wir: "Aus Rom verbannt, aus dem Reich der Notwendigkeit und der Vernunft, hatte der Dichter die Metamorphosen am Scharzen Meer zu Ende erzählt, hatte eine flache Steilküste, an der er Heimweh litt und fror, zu seiner Küste gemacht und zu seinen Gestalten jene Barbaren, die ihn bedrängten..."  Also hätte man dieses Stilelement ebensogut "erlebte Personen" nennen können.

Als die Landschaft und die zu Stein gewordenen Personen zeigen, dass die Geschichten zu Ende gekommen sind,  erscheint der Berg Olymp, Symbol der Tranzendenz.  Ovid ist sich selbst treu geblieben und trotz der Jammerjahren  kommt er aus der Zeit in die Ewigkeit.  Genie hat gesiegt!  Die göttlichen Vögel fliegen von den Teppichen von Arachne in die Luft. Ovid ist zu einem "unverwundbaren Kiesel" und auch zu einem Kormoran, der "strich über die Schaumkrönen der Brandung oder hockte als trimphierendes Pupermoos auf dem letzten, verschwunden Mauerrest einer Stadt."  Ovid schuf eine Natur, und jetzt is er 
die Natur.

Cotta triumphiert auch; er findet was er so lange suchte.  Er steigt auf den Berg, weil er ahnt ,dass er noch zwei Silben zu entdecken hat.  Er spricht sie laut, und beantwortet das Echo mit hier! Er hört seinen eigenen Namen.  Der Name "Cotta" ist nicht erwähnt;  man ahnt, dass er Ovids Name hinausruft, der jetzt ebensogut sein Name sein könnte, weil auch seine Geschichte zu Ende gekommen ist.  Oder vielleicht hat er "Atmen' gerufen, und "Brahman" kommt als Echo zurück.  Eine Kombination von Christentum (Auferstehung) und Hinduismus (Eins mit dem All werden), die sehr befriedigend ist.

Ein Tausend-und-Eine-Nacht Reichtum von interessanten Figuren hinter denen sich eine sehr raffinierte Ideenwelt allmählich zum Vordergrund kommt--"Die Letzte Welt" ist ein sehr schöner lesens- und nachdenkenswerter Roman, dem einen festen Platz in der Weltliteratur zukommt.







Anmerkungen


Mein besonderer Dank gilt Mary Upman vom Deutschen 

Literaturkreis in Baltimore.  Sie hat diese Rezension vorsichtig korrigiert und 


verbessert  


Vielen Dank, Mary!


Weitere Artikel auf deutsch von Thomas Dorsett (Googeln 


Sie den Titel und dem Namen, Thomas Dorsett)


1. Jakob der Lügner von Jurek Becker


2. Die Weisheit und das Alter von Thomas Dorsett


3. Die Herrlichkeit des Lebens von Michael Kampfmüller


4. Ruhm von Daniel Kaufmann

5. Liebste Fenschel! von Peter Härtling


Die Mitglieder vom deutschen Literaturkreis online machen eine Pause bis 

den 11. Januar, 2015, wann wir "Schubert" von Peter Härtling besprechen 


werden.  Wir laden sie ein, den Roman mitzulesen; meine Resenzion wird am 


Ende Januar erscheinen.


                                                                       TD

No comments:

Post a Comment